[NEUERSCHEINUNG:] “Erbgut” von Bettina Scheiflinger
Vor etwas mehr als einem Jahr hat Bettina Scheiflinger beim AnnoLiteraturSOnntag aus ihrem damaligen Romanmanuskript gelesen und schon damals das Publikum, inklusive mir, sofort tief in ihren Text gezogen. Ein Jahr später ist ihr Debütroman nun endlich erschienen. Und das Warten hat sich ausgezahlt.
Mit großer sprachlicher Feinheit erzählt Scheiflinger vom Leben mehrerer Generationen, von Familiengeschichte(n), von den verschiedenen Bedeutungen von Verantwortung in den jeweiligen Gefügen, vom Abnabeln und Zueinanderfinden und auch vom Weiterwirken des Zweiten Weltkriegs in innerfamiliärer Gewalt und im Schweigen.
Jede ihrer Figuren sucht nach Verortung und das Beschreiben dieser Suchbewegungen, ohne sie jedoch übermäßig auszustellen, ist einer der so einnehmenden Züge dieses Romans.
Was eine bewusste Entscheidung gewesen sein mag, beim Lesen aber leider dennoch streckenweise anstrengt, ist das schnelle hin und her Wechseln der erzählten Perspektiven in den einzelnen, oft sehr kurzen, Kapiteln, da ihnen auch keine Jahreszahlen oder eine ähnliche Orientierungshilfe vorangestellt werden. So empfiehlt es sich, beim Lesen parallel einen Stammbaum mitzuzeichnen, um die Verwandtschaftsverhältnisse überblicken und nicht zuletzt auch historisch einordnen zu können, was angesichts der verhandelten politischen Verhältnisse nicht irrelevant ist.
Berührend ist »Erbgut« aber in jedem Fall und was bleibt, ist der Wunsch, sich mit so gut wie jeder Figur zusammen zu setzen, die Abdrücke und Wasserringe auf der Tischplatte zu betrachten, einen Kaffee zu trinken und zu sagen: »So, jetzt erzähl einmal.« Denn am liebsten würde man noch weiter zuhören.
Diese Rezension erschien auch in unserer Printausgabe #63, September 2022

Bettina Scheiflinger:
Erbgut
Roman; Kremayr & Scheriau, 2022
ISBN: 978–3‑218–01329‑1
192 S. | € 22,00

ist seit 2015 bei & Radieschen “wegen dem Schreiben und weil wegen der Kreativität und weil wegen dem Lesen. Und weil wegen dem Spannendem an dem &. Eben wegen (Kurz)weil(e).”
Foto © Mark Daniel Prohaska